Beispiele zu Kap. 2 für deiktische, narrative

und omnitemporale Orientierung:  »pdf


Volkmar Lehmann

Formal-funktionale Theorie des russischen Tempus

1. Die slavischen Tempora und ihre Funktionen

1.1. Die Formen

Anders als beim Aspekt, der im Slavischen eine einheitliche allgemeine formale Struktur aufweist und sich nur in bestimmten Funktionen und Verwendungsbedingungen unterscheidet, weist die Slavia hinsichtlich der Tempora eine beträchtliche formale Vielfalt auf. Die relativ auffälligen Unterschiede legen es nahe, eine „Nord-Isoglosse“ (Nord-Slavia und Sloven.) und eine „Süd-Isoglosse“ (Bulg., Maked., Skr.) mit deutlichen Unterschieden in den formalen Tempussystemen anzusetzen. Im folgenden wird das Beispiel Russisch behandelt, über die Tempora im Slavischen s. Lehmann in Druck a).

Die Tempora sind im Russischen und im Slavischen allgemein flektivische Kategorien mit synthetischen und analytischen Formen. Es gibt als synthetische Tempora das Präsens, das Präteritum, im Altrussischen den Aorist und das Imperfekt; daneben eine Reihe formal verschiedener analytischer Formen, deren Flexionen durch formen von byt’ realisiert werden und die mit Vollverben im Infinitiv, Partizipien und Präsens kombiniert werden.

 Die russischen (wie die slavischen) Tempora interagieren stark mit den Aspekten und verfügen über formale und funktionale Aspekttempora. Bei formalen Aspekttempora entspricht der Kombination aus Aspekt- und Tempusfunktionen ein analytisches (z.B. das ipf. Futur im Russ. budu čitat’ ‚werde lesen’). Bei funktionalen Aspekttempora hat ein Tempus eine bestimmte Tempusfunktion nur in Kombination mit einem bestimmten Aspekt, z.B. die Funktion ‚Zukunft’ des pf. Präsens, zakroju, ...

Die Tempora im Passiv, dessen Umfang im ipf. Aspekt umstritten und dessen Tempusparadigmen in der Beschreibung meist  vernachlässigt werden, tritt fast ausschließlich als formales oder funktionales Aspekttempus auf. Der pf. Aspekt wird in der Regel mit Partizipien gebildet, für den ipf. Aspekt wird im Russischen ein Reflexivum genutzt. Das Tempussystem ist im Passiv differenzierter als im Aktiv. Im Russischen wird der Unterschied zwischen dem deiktischen und narrativen Tempusparadigma mithilfe des Auxiliars byt’  markiert (Zustands- und Vorgangspassiv werden kontextuell unterschieden). Vgl.: dom postroen ‚das Haus ist gebaut (worden)’; Russ. dom byl postroen ‚das Haus wurde gebaut / war gebaut worden’.

1.2. Die Funktionen

In der Fortführung der traditionellen Tempusbeschreibung einschließlich Reichenbach (1947) und typologischer Erkenntnisse (vor allem Dahl 1985) verwenden wir folgende Begriffe:

Die Tempusfunktionen („Zeitstufen“) bestehen aus (a) der Relation der Vor-, Gleich- und Nachzeitigkeit zwischen (b) der lokalisierten aktionalen Situation und (c) dem zeitlichen Lokalisator (reference time / Bezugszeit) (s. Lehmann 1992a).

Daraus ergeben sich drei Paradigmen von Tempusfunktionen:

die deiktischen Funktionen: ‚Gegenwart’, ‚Vorgegenwart’, ‚Zukunft’, ‚Vorzukunft’;

– die narrativen Funktionen: ‚Vergangenheit’, Vorvergangen­heit’, ‚narrative Zukunft’;

– die omnitemporale Tempusfunktion.

 (Aus der Systematik von Reichenbach gehen nur das deiktische und das narrative Paradigma hervor, s. 4.). Die Funktionsparadigmen unterscheiden sich nach der Art des Lokalisators.

2. Die deiktischen Tempusfunktionen

Der Lokalisator (die Referenz- / Bezugszeit) des deiktischen Funktionsparadigmas ist die Sprechzeit. Die Tempusfunktionen sind:

‚Gegenwart’ (= Defaultfunktion des Präsens), d.h. die aktionale Situation überschneidet sich zeitlich mit der Sprechzeit,

‚Vorgegenwart’ (typische Funktion eines Perfekts), d.h. Vorzeitigkeit zur Sprechzeit;

‚Zukunft’ (typische Funktion eines Futurs), mit der Situation nachzeitig zur Sprechzeit. Als periphere Tempusfunktion gehört zum deiktischen Paradigma die Funktion

‚Vorzukunft’ (Funktion eines Futurum exactum), mit der Situation nachzeitig zur Sprechzeit und vorzeitig zu einer anderen, zukünftigen Situation.

Die Funktion ‚Gegenwart’ wird in der Slavia per Default mit dem ipf. Präsens in vielen funktionalen Varianten (s. Mehlig 1995) ausgedrückt. Mit dem pf. Präsens können performative Akte markiert werden, außerdem tritt das pf. Präsens in verschiedener Stärke in Kombination mit modalen Funktionen auf, vgl. on otkroet ljuboe okno ‚er öffnet dir jedes Fenster’.

Die Tempusfunktion ‚Zukunft’ wird getrennt nach Aspekten synthetisch mit dem pf. Präsens (zakrojut ‚man wird schließen’) und analytisch mit dem Hilfsverb für ‚sein’ ausgedrückt. Das Inhaltsverb ist ein ipf. Infinitiv (budut zakryvat’ ‚man wird schließen’).

Die Vorzukunft wird im Russ. und Poln. durch das pf. Präsens bedient.

Das ehemalige urslavische Perfekt mit der präsentischen Form des Hilfsverbs für ‚sein’ und dem Vollverb mit aktivem Partizipialsuffix {-l-} hat seine Funktion ‚Vorgegenwart’ generell behalten, hat sich im Russischen aber ausgedehnt auf das narrative Paradigma (den entsprechenden Gesetzmäßigkeiten der Grammatikalisierung folgend). Im Russischen ist durch den Schwund des präsentischen Hilfsverbs für ‚sein’ eine synthetische Form mit Endungen für Numerus und Genus entstanden, vgl. pisa-l-a ‚hat geschrieben/schrieb-fem’.

2.2. Die narrativen Tempusfunktionen

Das narrative Funktionsparadigma ist eine Reproduktion der chronologischen Relationen der Gleich-, Vor- und Nachzeitigkeit des deiktischen Paradigmas. (s. Lehmann 1992b) Es besitzt die Tempusfunktionen ‚Vergangenheit’ (typische Funktion eines echtem, d.h. narrativem Präteritum / past), ‚Vorvergangenheit’ (typische Funktion eines Plusquamperfektum), und ‚narrative Zukunft’ (selten).

Dominanter Lokalisator (Bezugszeit) für die Situationen narrativer Prädikate statt der Sprechzeit das psychische Jetzt – die Zeit der Verarbeitung in der Rezeption bzw. Produktion, oder anders gesagt: der Zeit“punkt“, zu dem der Sprecher bzw. Hörer sich eine Situation vorstellt, so wie ein Radiohörer sich die Situationen einer Direktreportage vorstellt (s. Lehmann 1992a; bei Reichenbach und seinen Nachfolgern wird die Bezugszeit der narrativen Tempora nicht spezifiziert, sondern nur gesagt, dass sie vor der Sprechzeit liegt). Der Normalfall mit dem „echten“ Präteritum für ‚Vergangenheit’ ist, dass die Situation als gleichzeitig zum psychischen Jetztaufgefasst wird, was bei episodischen Situationen die Illusion erzeugt, „dabei“ zu sein und die Grundlage für die zeitliche Strukturierung des Erzählten bildet. Daher besteht auch die Möglichkeit, dieses Präteritum durch das historische Präsens zu ersetzen, während Prädikate im Plusquamperfekt bzw. im Globalpräteritum mit der Funktion der Vorvergangenheit nur durch ein „historisches Perfekt“ ersetzt werden können.

Die Tempusfunktionen des narrativen Paradigmas implizieren, dass eine aktionale Situation – neben der dominanten Relation zum psychischen Jetzt – in taxischer  Relation zu anderen aktionalen Situationen steht. Dass die Gesamtheit des Erzählten vor der Sprechzeit liegt, ist relativ irrelevant, die präteritalen Formen vermitteln, z.B. in Gegenwarts- oder utopischen Romanen, oft nur eine Illusion von Vergangenem. Was das narrative Paradigma vermittelt, ist vielmehr eine „Enthebung von der Sprechsituation“ (s. dazu Wiemer 1997); mit ‚vor der Sprechzeit’ als schwachem Default.

Das Globalpräteritum ist mit beiden (derivationalen) Aspekten kombinierbar. Für die Vorvergangenheit steht neben dem Globalpräteritum auf {-l-} ein meist vorangestelltes pf. Adverbialpartizip zur Verfügung, vgl. ubrav komnatu, ona ušla ‚als sie das Zimmer aufgeräumt hatte, ging sie’.

Die narrative Zukunft wird vorwiegend mit einer Futurform im Indikativ wiedergegeben.

Einen Forschungsüberblick zur Temporalität im Slavischen gibt Kosta (1995).

1.2.3. Die omnitemorale Funktion

Der Lokalisator bei der omnitemporalen Funktion ist ‚jedes beliebige Zeitintervall’ bei generischer Referenz der Argumente. Genutzt werden die Tempora des deiktischen Paradigmas, meist das Präsens, z.B. zum Ausdruck von mathematischen Axiomen, Definitionen und Gesetzmäßigkeiten, aber auch Tempora für Vor- oder Nachzeitigkeit, wie das Sprichwort zeigt: Na beregach, gde byla voda, opjat’ zal’et. ‚An Ufern, wo Wasser war (vorzeitig zu tx), wird es wieder hinfließen (nachzeitig zu tx).’

3. Tempus und Aspekt im Text

Während in den voraus gegangenen Abschnitten Tempora und Aspekte als einzelne Einheiten jeweils in ihrer Umgebung betrachtet wurden, sollen im folgenden einige Funktionen der Kombination von mehreren Prädikaten mit ihren Aspekten und Tempora angesprochen werden.

Hinsichtlich der temporalen Kohärenz zwischen aktionalen Situationen sind die deiktische und die taxische (s. Lehmann 1998b) sowie die kompletive („relative“, vgl.  z.B. Padučeva 1996: 292f) Orientierung zu unterscheiden. Bei der kompletiven  Orientierung ist der temporale Lokalisator ein im übergordneten Satz genannter Sprech-, Wahrnehmungs- oder Denkakt, der meist durch ein Verb (Verbum dicendi, sentiendi oder cogitandi) ausgedrückt wird, vgl. Ona skazala / dumala, cˇto on sidel / sidit / budet sidet’ doma. ‚sie sagte / meinte, er habe gesessen / sitze / werde sitzen zu Hause’. Die Redeerwähnung (direkte / indirekte Rede) ist eine der Unterkategorien der kompletiven Orientierung.Die Tempora und die chronologischen Relationen zum Akt des übergeordneten Inhaltsworts in der indirekten Rede entsprechen im Russischen denen der direkten Rede. Die Tempusfunktionen bei kompletiver Orientierung gehören dem deiktischen Funktionsparadigma an.

Die anderen nicht deiktischen chronologischen Relationen zwischen zwei und mehr aktionalen Situationen werden in der Slavistik meist als taxisch bezeichnet. Sie sind textlinguistisch das Analogon der anaphorischen Relationen bei den Nominalgruppen. Eine taxische morphologische, damit explizite Funktion haben die Adverbialpartizipien. Die anderen taxischen Relationen beruhen auf Inferenzen, sind also implizit, und erscheinen in allen Redetypen. Darunter werden hier die drei Arten von Textpassagen verstanden, in denen ein temporales Paradigma ohne Unterbrechung angewendet wird. So wird z.B. bei omnitemporaler Tempus-Aspektverwendung in konditionalen und temporalen zusammengesetzten Sätzen bei Ungleichzeitigkeit für das Prädikat des Nebensatzes in vielen slavischen Sprachen die pf. Präsensform verwendet, vgl. rannej vesnoj, kogda sojdetpf sneg i podsochnetpf ... trava, v stepi nacˇinajutsjaipf vesennie pali (Forsyth 1970: 184).

Taxische Relationen sind besonders relevant und eine konstitutive Voraussetzung für die narrative Rede. Hier ergeben sich – episodische Vergangenheit  vorausgesetzt – aus den Aspektkonstellationen folgende, von Koschmieder (1934) erstmals beschriebenen, Arten der aktionalen Chronologie(deutsch jeweils ‚sie weinte und legte sich schlafen’):

Sequenz (pf. + pf.), ona poplakalapf i legla spat’pf

Parallelismus (ipf. + ipf.), ona plakalaipf i lozˇilas’ipf spat’

Inzidenz (ipf. + pf. oder umgekehrt, wobei das ipf. Verb den „Hintergrund“ und das pf. Verb den „Eintritt“ der Handlung markieren): ona plakalaipf i legla spat’pf.

Diese chronologischen Relationen ergeben sich inferenziell bei Vergangenheit aus den jeweiligen aktionalen Gestalten, die nacheinander rezipiert werden. Wenn der Rezipient sich ein Ereignis, also eine einphasige, damit abgeschlossene Situation im psychischen Jetzt vorstellt und die nächste Situation ebenfalls einphasig ist, entnimmt er den beiden Prädikaten, dass ihre Situationen nacheinander stattfinden, dass sie eine Sequenz bilden, es sei denn, der Text liefert eine gegenteilige Information. Ist die im „Jetzt“ aufgenommene Situation nicht abgeschlossen, und die im Text darauf folgende auch nicht, schließt der Rezipient (nicht bewusst), dass sie untereinander gleichzeitig sind, einen Parallelismus bilden.

Die zweite Situation kann aber durch bestimmte Faktoren, z.B. durch ein Wort für ‚danach’, als ungleichzeitig angezeigt werden (oni slusˇaliipf radio, potom igraliipf v sˇachmaty ‚sie hörten Radio, danach spielten sie Schach’). Dann ist der aktional-chronologische Default aufgehoben und die kontextuelle Chronologie setzt sich durch.

Ganz allgemein gesehen ist der Aspekt nur einer der Faktoren, die für das Verstehen chronologischer Relationen eine Rolle spielen (s. Lehmann / Hamburger Studiengruppe 1993), neben den Faktoren der Sachverhaltslogik, der Abfolge der Prädikate, Temporallexik (s. Born-Rauchenecker 2001) und/oder der lexikalische aktionale Funktion (s. Aspekttheorie). Letztere ist als Ersatz für den Aspekt wirksam, wenn dessen Funktionen der aktionalen Chronologie außer Kraft sind, wie im ipf. Präsens. Die narrative Verwendung des ipf. Präsens, z.B. in Direktreportagen, Szenanweisungen oder dem historischen Präsens, zeigt die gleichen chronologischen Effekte der aktionalen Chronologie wie pf. und ipf. Aspekt in der Vergangenheit oder dem im Präteritum „aspektlosen“ Deutschen: Sequenz, mit den Situationstypen Ereignis + Ereignis: Ona otkryvaet pis’mo i saditsja oder deutsch Sie öffnete den Brief und setzte sich. Parallelismus, mit den Situationstypen Verlauf + Verlauf: Ona chodit po komnate i rassmatrivaet snimki oder deutsch Sie ging im Zimmer herum und betrachtete Photos. Es ist das Privileg von Aspektsprachen wie den slavischen Sprachen, dass diese chronologischen Relationen auch mit grammatischen Mitteln ausgedrückt werden können, also unabhängig davon, welche aktionale Gestalt die lexikalischen Bedeutung impliziert.

       Die aktionale Chronologie generiert somit, zusammen mit anderen Faktoren, die Beziehungen im episodischen Zeitnetz eines Textes, natürlich vor allem eines erzählenden Textes. Es ist das episodische Zeitnetz, von dem gesagt werden kann, es bilde den narrativen Vordergrund (die oben erwähnte „Hintergrund-Eintritt“-Konstellation in einer Inzidenz ist eine Schichtung innerhalb dieses episodischen Textvordergrunds). Den Hintergrund bilden die nichtepisodischen Situationen mit einem eigenen Zeitnetz. Mit dieser funktionalen Schichtung wäre die grobe formale Zuordnung der Aspekte zum fore-/backgrounding bei Hopper (1979) zu präzisieren.

 Wenn es um den Aspekt in narrativer Rede geht, ist die gegenwärtig maßgebliche theoretische Arbeit die von Padučeva (1996).

 

Literatur

s. Lehmann, in Druck a.