Volkmar Lehmann

2009.3, letzte Änderung 6.12.2009

(Die «FFT russischer Aspekt» Version 2009.3 wurde durch kommentierte Aspekt-Tempus-Paradigmen sowie Grundlagenaussagen ergänzt und an einigen Stellen ausgebaut und korrigiert. Bei größeren Veränderungen bzw. Ergänzungen gegenüber Version 2009.2 sind in 2009.3 die Überschriftsnummern unterstrichen.)

Formal-funktionale Theorie des russischen Aspekts

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Grundlegende Aussagen der formal-funktionalen Aspekt-theorie:       3

1. Allgemeines        5

1.1. Prinzipien        5

1.2. Funktionen, Defaults und ihre Veränderung       6

1.3. Ebenen der formalen und funktionalen Beschreibung           7

1.4. Regeln     7

1.5. Derivationale Eigenschaften, Formen        8

2. Die Funktionen8

2.1. Formübergreifende, universale Funktionen        9

2.1.1. Gestaltfunktionen       9

2.1.2. Situationstypen  10

2.1.3. Episodizität          11

2.1.4. Aktionale Häufigkeit   11

2.2. Formgebundene, einzelsprachliche Funktionen            12

2.2.1. Lexikalische Aktionale Funktionen (LAFs)      12

2.2.2. Exkurs: Subtypen und Hyperkategorien von Verb-Lexemen     14

2.2.4. Satzfunktionen der Aspekte            21

2.2.5. Taxische Aspektfunktionen            21

2.3. Kognitive Konstituierung der Funktionen            22

3. Die Funktionen und ihre Veränderung durch Affigierung und Kontext       23

3.1. Lexikalische Veränderungen der LAF         24

3.1.1. Lexikalische Derivation von Ereignis-Lexemen         24

3.1.2. Kontextuelle Veränderung der Verlaufslexeme        24

3.1.4. Kontextuelle Veränderung der Ereignis-Lexeme      25

3.2. Grammatische Veränderungen der LAF    25

3.2.1. Ereignis-Lexeme         25

3.2.2. Verlaufslexeme  26

3.2.3. Diffuse Lexeme  27

3.2.4. Stative Lexeme  30

3.2.5. Resultativität      30

3.2.6. Terminativität    31

3.3. Alpha- und beta-Verben            31

3.4. Episodizität und Häufigkeit und ihre Veränderung     34

4. Temporale Funktionen der Aspekte   35

4.1. Tempusfunktionen        35

4.2. Deiktische Funktionen und narratives Präsens36

4.3. Taxische  Tempusfunktionen            37

5. Modale Funktionen der Aspekte           37

5.1. Formen   38

5.2. Funktionen     38

5.3. Funktionsregeln für dynamische und epistemische Kontexte        39

5.4. Funktionsregeln für deontische Kontexte            40

Literatur          42

Grundlegende Aussagen der formal-funktionalen Aspekt-theorie:

 

I. Aussagen zu den Formen:

1. Der russische Aspekt ist eine derivationale grammatische Kategorie: Von aspektuell nicht affigierten Verben werden per Suffigierung oder Präfigierung Partnerverben (grammatische Derivate) des oppositiven Aspekts abgeleitet (s. 1.5.).

2. Außer zu den stativen und zweiaspektigen Verben gibt es zu prinzipiell allen, auch zu den atelischen (nepredel’nye) Verben, einen oder mehrere, funktionale Aspektpartner (s. Lehman 1988).

3. Funktionale Aspektpartner sind Verben, die es erlauben, die lexikalische Bedeutung eines Verbs mit Satz- und Textfunktionen beider Aspekte zu kombinieren (s. ebd.).

4. Die grammatischen Derivate (die durch Affigierung markierten Aspektpartner) sind per Default beta-Verben, d.h. in einer Reihe von Gebrauchsparametern schwächer als die (per Default unmarkierten)  alpha-Verben (s. 3.3.).

II.  Aussagen zu den Funktionen:

1. Mit der formal-funktionalen Modellierung wird versucht, die aspekt-bedingten Funktionen der Verben in Sätzen und Texten durch Rekonstruktion zu erklären, wenn möglich kompositional. Rekonstruiert wird der Weg der Funktionen ausgehend von lexikalischen Stämmen über grammatische Affigierung und syntaktische Kontexte hin zu Satz- und textuellen Funktionen.

2. Die zentralen aspektuellen Funktionen sind: Aktionale Gestalt (Ereignis, Verlauf, stative Situation, diffuse Gestalt) und Telizität (telisch, atelisch, diffuse Telizität) sowie Episodizität (episodisch, nichtepisodisch) und Häufigkeit (einmal, mehrmals). Siehe Kap. 2.

3. Für die Funktionen gilt allgemein (Siehe Kap. 2; Paradigmen 5.-

     8.):

A. Aktionale Gestalt und Telizität einerseits, Episodizität und Häufigkeit andererseits bilden meist Cluster (d.h. sie implizieren sich gegenseitig). Siehe Kap. 2.2.1., 3.3., Paradigmen 7.-8.

B. Funktionen und Cluster sind meist Defaults, d.h. sie unterliegen der Veränderung durch Affigierung oder Kontext. Bei der Veränderung der Defaults können die Cluster aufgelöst werden. Siehe Kap. 3.; Paradigmen 6.-7.

C. Die Funktionskategorien können auf Grund der Veränderungen im Sinne von IIIB. in den unterschiedlichen Formaten desselben Verbs (Stamm, Wortform, Satz, Text) verschieden spezifiziert sein. Sie können auch nicht spezifiziert sein (Episodizität und aktionale Häufigkeit) oder diffus sein (aktionale Gestalt und Telizität). Siehe Kap. 3.

4. Zwischen Aspekt und Tempus bestehen generell und auf allen Ebenen enge Interaktionsbeziehungen. Siehe Kap. 4., Paradigmen 2.-4. und

5. Zwischen Aspekt und Modalität bestehen im Russischen Interaktions-beziehungen. Siehe Kap. 5., Paradigma 9.

III. Aussagen zu anderen Konzeptionen:

1. Der Grundwiderspruch der traditionellen funktionalen Aspektkonzeption (Vinogradov, Akademiegrammatiken u.a.) besteht darin, dass einerseits prinzipiell jedes Verb einem Aspekt zugeordnet wird (was adäquat ist), andererseits die Funktionsopposition der Aspekte ‚Grenzerreichung‘ vs. ‚grenzbezogener Verlauf‘ nur für einen beschränkten Teil der Verben (die telischen, predel’nye Verben) gilt (s. dazu Lehmann 1988).

2. Der Grundwiderspruch der strukturalistischen Aspektkonzeption (Isačenko u.a.)  besteht darin, dass sie zwar eine allgemeine Bedeutung für die Aspekte postuliert, dass sie aber nur die Suffigierung als grammatische Formbildung anerkennt und damit auch solche Präfigierungen, die zu den gleichen Funktions-oppositionen führen wie die durch Suffigierung gebildeten, aus der grammatischen Aspektopposition ausschließt (s. ebd.).

1. Allgemeines

1.0. Die Existenzberechtigung der hier vorgestellten Theorie beruht auf dem Umfang der Systematik. Sie geht über eine Beschreibung der Satzsemantik oder der Interaktion zwischen Lexik und Aspekt hinaus, besonderer Wert wird auf die Übergänge zwischen den einzelnen Komponenten – Lexik, Morphologie, Syntax und Text – gelegt. Angeschlossen sind die Beziehungen zu Tempus und Modalität sowie sprachhistorische und psychologische Erklärungen.

Hauptsächliche Neuerung der „Formal-funktionalen Aspekttheorie“ ist die Integration der Komponenten in einen konsistenten Beschreibungs- und Erklärungszusammenhang, insbesondere die von Formen und Funktionen. Dabei werden nicht alle Differenzierungen berücksichtigt, wie sie sich etwa bei der Beschränkung auf satzsemantische Sachverhalte ergeben können.

Die Theorie baut vor allem auf der russischen Aspektforschung auf und ist das vorläufige Endprodukt einer Entwicklung, die sich in einer Reihe von eigenen Aufsätzen und benachbarten Schriften zu speziellen und allgemeinen Fragen nicht nur des russischen Aspekts niedergeschlagen hat.

Aufgabe des vorliegenden Essays ist es, als Ersatz für eine gelegentlich angemahnte Aspektmonographie den theoretischen Zusammenhang in einem einzigen Text zu liefern. Die diversen Vertiefungen des Themas werden in Form von Literaturverweisen geliefert.

Die Literaturangaben  verweisen auf Seiten der Website „Das slavische Verb“:

http://web.me.com/vl_hh/Website/Literatur_AT.html

und sind entsprechend dem Zweck dieses Textes weit gehend auf Arbeiten des Autors und benachbarte Arbeiten beschränkt.

Die Beispiele für universale Funktionen sind in Deutsch, Beispiele für slavische bzw. russische Formen und Funktionen sind in Russisch gehalten.

1.1. Prinzipien

1.1.0 Dass neben den morphologischen Eigenschaften auch lexikalische, syntaktische und textlinguistische zur Beschreibung des Aspekts gehören, ist bekannt. Die vorliegende Theorie erfasst daher den Beitrag der lexikalischen Bedeutung der Verben, der Aspektaffixe, des syntaktischen Kontextes und der Kombination mit Tempora, mit Aspekten untereinander und mit modalen Einheiten. Das geschieht durch die Rekonstruktion des Zustandekommens der jeweiligen funktionalen Kategorien, von der lexiko-grammatischen Kategorie der Lexikalischen Aktionalen Funktionen über den Aspekt zu den syntaktischen und textuellen Funktionskategorien. Es werden jeweils die kombinatorischen Regeln genannt, mit denen aus Kategorien einfacherer Einheiten die Kategorien komplexerer Einheiten gebildet werden, z.B. die Regeln, nach denen die morphologischen Aspektfunktionen durch Kontextualisierung zu syntaktischen umgewandelt werden.

1.2. Funktionen, Defaults und ihre Veränderung

Als Funktion der sprachlichen Form F bezeichnen wir alle Komponenten des impliziten und expliziten, des lexikalischen, grammatischen und textuellen Wissens, die Folge der Anwesenheit der Form F in einer komplexeren sprachlichen Form sind. So ist die Funktion ‚Zukunft‘ Folge der Anwesenheit des Präfixes pro- in der pf. Wortform pročitaju.

Kann eine Funktion durch einen spezifischen Kontext (einschließlich wortforminternem Kontext) geändert werden, ist es eine Default-Funktion. M.a.W.: Ohne spezifischen Kontext bleibt eine Funktion als Bestandteil einer komplexeren Einheit so wie sie ist erhalten, z.B. die morphologische Funktion des pf. Aspekts als Bestandteil eines Satzes. Andernfalls wird sie durch einen spezifischen Kontext verändert. Diese Veränderung kann wiederum in Form einer Regel formuliert werden.

Es handelt sich bei Default-Regeln also um Regeln mit Ausnahmen. Eine Regel für die Veränderung eines Defaults (für die Ausnahme) kann theoretisch auch in die zugrunde liegende Regel aufgenommen werden. In vielen Fällen würden die Regeln dann aber sehr kompliziert ausfallen. Es kann aber auch sein, dass die Ausnahmen noch nicht exakt formuliert werden können und nur klar ist, dass die gegebene Regel nicht immer zutrifft. Die Formulierung der Veränderungen und ihrer Bedingungen ist dann eine Aufgabe für die Zukunft.

1.3. Ebenen der formalen und funktionalen Beschreibung

Die Regeln sind als Input-Output-Regeln formuliert und beschreiben die Konstitution von Kategorien und die aspektuelle Kombinatorik auf vier Ebenen.

Lexikalische Ebene, z.B.  zakry-: Die lexikalische Bedeutung ist für das ipf. und das pf. Verb gleich. S. 2.1.

Morphologische Ebene, vgl. zakryt’ (pf.) > zakryvat’ (ipf.): Durch Suffigierung, hier mit -va-, entsteht das grammatische Oppositionspaar mit einem Perfektivum (pf. Verb) und einem Imperfektivum (ipf. Verb). S 2.2

Syntaktische Ebene, vgl. v to vremja kak on zakryval dver’: Erst im Satzkontext wird im Falle der progressiven Funktion die lexikalisch vorgegebene Ereignis-Funktion des ipf. Verbs umgewandelt zu einer Verlaufsfunktion (in einem anderen Satzkontext, z.B. večerom on zakryval dver) bleibt die Ereignis-Funktion erhalten, ist da aber mit der Funktion ‚nichtepisodisch + mehrmals’ kombiniert). S.2.3.

Textuelle Ebene, vgl. v to vremja kak on zakryval dver’, ona zakryla okno: Im Text mit der Kombination mehrerer Verben erscheint hier die Konstellation ‚Eintritt einer episodischen Handlung vor dem Hintergrund einer anderen episodischen Handlung’. S. 2.4.

1.4. Regeln

Für die Beschreibung werden folgende funktionalen Regelarten angewendet:

Regeltyp I: Implikationsregeln: ‚X‘ –> ‚Y‘ (= wenn Funktion ‚X’, dann auch Funktion ‚Y‘)

Regeltyp II: Inferenzregeln: ‚X‘ + ‚’Y‘ –> ‚Z‘ (= Input ,X‘ und ‚Y‘ wird verarbeitet zu Output ‚Z‘)

Die Regeln gehören einer bestimmten Sprachebene oder dem Übergang von einer Ebene zu einer anderen Ebene an. Daneben gelten die Begriffe und Regeln der klassischen Grammatik und Lexik, vor allem die von

Regeltyp III: Derivationsregeln: X > X’ (= durch Affigierung entsteht neben X die Einheit X’)

1.5. Derivationale Eigenschaften, Formen

Die Aspekte sind derivationale morphologische Kategorien. Das bedeutet, dass ihre Opposition auf grammatischer Derivation beruht, formal markiert durch grammatische Aspektaffixe, funktional gekennzeichnet durch die Veränderung der lexiko-grammatischen Funktion.

Träger der grammatischen Funktion ist daher einerseits der lexikalische Stamm, andererseits das grammatische Affix.

Die Formbildung beruht im Wesentlichen darauf, das von Perfektiva per Suffigierung Imperfektiva abgleitet werden, zakryt’ > zakryvat’, ..., und von Imperfektiva per Prädigierung Perfektiva, stroit’ > postroit’, ...

Zur Formbildung des Aspekts s. Lehmann 1999a.