2. Die Funktionen

2.0. Die allgemeinste Unterscheidung der Funktionen bezieht sich darauf, ob sie als formübergreifende und universale Funktionen angesehen werden können oder ob sie formgebunden und eher einzelsprachlich zu definieren sind. Universalen Charakter haben aspektuelle Funktionen aufgrund ihrer Abstraktheit und ihrer im Prinzip vollständigen Vertretung in den Sprachen der Welt und damit ihrer relativen Unabhängigkeit von einzelsprachlichen formalen Strukturen: die Gestaltfunktionen, die Situationstypen, die Episodizität und die aktionale Häufigkeit:

 

Situationsgestalt

Situationstyp

Episodizität

Häufigkeit

Ereignis

Verlauf

stative Situation diffuse Gestalt

Telizität

Terminativität

Resultativität

Dauer

episodisch

nichtepisodisch

einmalig

mehrmalig

 

Funktionen mit formübergreifendem, universalem Charakter

 

Die einzelsprachlichen Funktionen sind jeweils spezifische Kombinationen vor allem der universalen Funktionen und haben einzelsprachlichen Charakter durch die relativ feste Zuordenbarkeit dieser Kombinationen zu bestimmten formalen Strukturen. Dies gilt hinsichtlich der Lexikalischen Aktionalen Funktionen (LAFs) für die Verb-Lexeme, hinsichtlich der Funktionen des pf. und ipf. Aspekts für den Aspekt als morphologische Kategorie, hinsichtlich der Satzfunktionen für die syntaktischen Kontextstrukturen und hinsichtlich der taxischen Funktionen für die Konfigurationen von Prädikaten im Text.

Bei den  Funktionen mit universalem Charakter sind die der Situationstypen, epistemologisch gesehen direkte Widerspiegelungen von Sachverhaltseigenschaften, insofern objektiv. Die Gestaltfunktionen und Episodizität sind epistemologisch gesehen primär kognitiv und kommunikativ bedingte Begriffsmerkmale, insofern subjektiv.

Die Funktionen haben bezüglich Konstitution, Vererbung und Veränderung grammatischen oder lexikalischen Status (s. dazu 2.9.).

[Zur Definition der Funktionen s. Lehmann 1992a, 1999a, in Druck a.]

2.1. Formübergreifende, universale Funktionen

2.1.1. Gestaltfunktionen

Ereignisse: Ganzheitlich (einphasig) konzeptualisierte Situationen. Vgl. z.B. zakryl ‚schloss‘, poguljal ‚ging eine zeitlang spazieren‘, (muzyka) zaigraet ‚(die Musik) wird anfangen zu spielen‘.

Verläufe: Mehrphasige Situationen. Vgl. z.B. v to vremja, kak guljal ‚während er spazieren ging‘, smotri, ona zakryvaet okno ‚guck, sie schließt gerade das Fenster‘.

Stative Situationen: Situationen ohne Phasen. Vgl. z.B. ėto značit ‚das bedeutet‘, gora zakryvaet ozero ‚der Berg verdeckt den See‘.

Situationen mit diffuser Gestalt: Situationen mit Ereignis- und / oder Verlaufsgestalt. Vgl. z.B. on čitaet stichi ‚er liest die Verse und/oder er liest Verse‘; ona černeet ‚sie wird schwarz und/oder schwärzer‘.

[Umfassend zu Gestaltfunktionen und Situationstypen: Anstatt 2003a. Definitionen u.a. in Lehmann 1999a. Zur Definition der Gestalt anhand von Phasen / Ganzheitlichkeit s. Lehmann in Druck c. ]

2.1.2. Situationstypen

Die Kategorien beziehen sich auf die drei Stadien einer dynamischen aktionalen Situation:

– Telizität (‚telisch‘ – ‚atelisch’ – ‚diffus’) und Dauer (durativ – nichtdurativ) auf das dynamische, innere Stadium, sie schließt gerade das Fenster, das Fenster ist geschlossen...

– Terminativität (terminativ – nichtterminativ) auf das Vorstadium, sie ist dabei, über die Brücke zu gehen, sie schließt gerade das Fenster, ...

– Resultativität (resultativ – nichtresultativ) auf das Nachstadium, das Fenster ist geschlossen, ...

Terminativität und Resultativität setzen Telizität voraus. [Die bisherige Definition der Situationstypen, z.B. in Lehmann 2005c, war auf Telizität beschränkt.]

2.1.2.1. Telizität

Telische Situationen (mit innerer Grenze = predel’nyj, telic, heterogen, grenzbezogen, terminativ2): Die Situation besitzt eine inhärente sachliche Grenze, nach deren Erreichen die Fortsetzung der Situation nicht mehr möglich ist, sie schloss das Fenster, ...

Atelische Situationen (ohne innere Grenze, atelic, nicht grenzbezogen, homogen), sie weinte, ...

Diffuse (telische und/oder atelische) Situationen, sie las Zeitung, ...

[Umfassend zu Telizität: Anstatt 2003a. S. auch Lehmann 1999a.]

2.1.2.2. Terminativität

Terminative Situationen (= ca.: accomplishments): Die telische Situation enthält einen Vor-Verlauf ; sie schloss gerade das Fenster

Nichtterminative Situationen (= ca.: achievements): Die telische Situation enthält keinen Vor-Verlauf; sie weinte gerade.

Eine andere Verwendung des Namens terminativ ist äquivalent mit telisch.

2.1.2.3. Resultativität

Die resultative dynamische Situation enthält einen Nachzustand aufgrund eines (wahrnehmbaren) Zustandswechsels; das Fenster ist geschlossen, die Butter hat sich verteuert, ... oder in der Form eines (nicht wahrnehmbaren) Effekts; das hat sie versprochen. Die nichtresultative Situation besitzt keinen derartigen Nachzustand, sie hat gesagt / geweint, ...

[Zur Resultativität s. Wiemer (& Giger) 2005.]

2.1.2.4. Dauer

Punktuelle Situationen dauern per Default nicht länger als 3 Sekunden, sie schloss das Fenster, durative Situationen überschreiten dieses Zeitmaß, sie weinte leise. [Zur kognitiven Begründung des Zeitmaßes s. Lehmann 1992a. Zum Verhältnis von Dauer und aspektuellen Funktionen s. Brüggemann 2008.]

2.1.3. Episodizität

Episodische Situationen: Die Situation ist Bestandteil eines einmaligen (unikalen) Situationskomplexes (Sprechsituation, narrative Episode).

Nichtepisodische Situationen: Die Situation ist nicht Bestandteil eines einmaligen Situationskomplexes.

[Zur Episodizität s. Lehmann 1994 (sowie 1980b, 1999a, 2001a). Hansen 1996.]

2.1.4. Aktionale Häufigkeit

Einmalige Situationen: Die aktionale Situation wird genau ein Mal realisiert.

Mehrmalige Situationen: Die aktionale Situation wird mehrere Male realisiert.

Iterative Situation: Die mehrmaligen Situationen sind nichtepisodisch.

Summarische Situation: Die mehrmaligen Situationen sind Bestandteil einer Episode.

Frequentative Situation: Die mehrmaligen Situationen sind Bestandteil eines Verlaufs.

Episodische Situationen sind per Default (!) einmalig. [Zur Häufigkeit s. Lehmann 1994.]

2.2. Formgebundene, einzelsprachliche Funktionen

2.2.1. Lexikalische Aktionale Funktionen (LAFs)

Lexikalische Aktionale Funktionen sind die aspektrelevanten Funktionen von Verblexemen. Sie bilden lexiko-grammatische Kategorien (wie z.B. auch die Transitivität mit für das Genus verbi relevanten Funktionen; zu den lexiko-grammatischen Kategorien s. Lehmann 2001b). Träger der LAF ist der lexikalische Stamm des Verbs, z.B. zakry- ‚schließ-‘, gulja- ‚spazieren geh-‘, znači- ‚bedeut-‘. [Zum Begriff des lexikalischen Stamms s. Lehmann 1999c.]

2.2.1.1. Kern jeder LAF ist ein Cluster aus Gestalt- und Telizitätsfunktion

Dass sie ein Cluster sind, bedeutet, dass Gestalt- und Telizitätsfunktion sich gegenseitig implizieren, und zwar in folgender Weise:

– ‚telisch Ereignis‘, vgl. zakry- ‚schließ‘;

– ‚atelisch Verlauf oder stative Situation‘, vgl. gulja- ‚spazieren geh-‘ oder znači- ‚bedeut-‘;

– ‚diffuse Gestalt diffuse Telizität‘, vgl. čita- (stich / stichi) ‚les- (den Vers / Verse)‘.

Diese Cluster stehen auch am Anfang der ontogenetischen und diachronen Entwicklung. Die Funktionen der LAF können durch Affigierung und / oder Kontext verändert werden und dabei können die lexikalischen LAF-Cluster aufgelöst werden, diese haben folglich nur den Status von Defaults. Bei der Auflösung von Clustern wird nur die Gestalt-, nicht aber die Telizitätsfunktion verändert. Als Ergebnis der Auflösung kann es für Wortformen oder Verben im Satz folgende Funktionskombinationen geben:

– ‚telisches Ereignis‘ oder ‚atelisches Ereignis‘ (vgl. pf. Simplex[1] zakryt’ ‚schließen‘ vs. pf. Derivat poguljat ‚eine zeitlang spazieren gehen‘);

– ‚atelischer Verlauf‘ oder ‚telischer Verlauf‘ (vgl. ipf. atelisches Simplex guljat’ ‚spazieren gehen‘ vs. telisches ipf. Derivat + Kontext v to vremja kak zakryval ‚während er schloss‘).

Demgegenüber bleibt ‚stativ‘ bestehen und impliziert auch in Wortformen und Sätzen ‚atelisch‘ (diese Implikation ist nicht umkehrbar, bildet also kein Cluster, da es auch atelische Verläufe gibt). S. hierzu 3. und Paradigma 8. Wenn die Diffusität einer Situation im Satz erhalten bleibt, dann bleibt auch das Verhältnis von Gestaltfunktion und Telizität erhalten: eine Situationen mit diffuser Gestalt ist zugleich eine mit diffuser Telizität und umgekehrt. Zur Veränderung der Diffusität durch Konturierung s. 3.2.3.

2.2.1.2. Die LAF ist das primäre Kriterium für die Lexemtypen

Verb-Lexeme sind lexikalische Verbstämme mit genau einer lexikalischen Bedeutung plus Variablen für grammatische Affixe einschließlich aspektueller Affixe. Die Kriterien für ihre Typisierung sind im Hinblick auf das aspektuelle Verhalten der Lexeme angesetzt. Die Lexemtypen werden nach der Gestaltfunktion der LAF benannt:

Ereignislexeme besitzen die Gestaltfunktion ‚Ereignis‘ (und zugleich die Funktion ‚mit innerer Grenze‘, d.h. sie sind zugleich telisch).

Verlaufslexeme besitzen die Gestaltfunktion ‚Verlauf‘ (und haben zugleich die Funktion ‚ohne innere Grenze‘, d.h. sie sind zugleich atelisch).

Stative Lexeme besitzen die Gestaltfunktion ‚stativ‘ (und haben zugleich die Funktion ‚ohne innerer Grenze‘, d.h. sie sind zugleich atelisch).

Diffuse Lexeme besitzen die diffuse Gestaltfunktion ‚Ereignis und / oder Verlauf‘ (eine innere Grenze kann kontextuell ausgedrückt werden, sie wird jedoch nicht mit dem lexikalischen Stamm ausgedrückt, d.h. die Situation ist telisch und / oder atelisch; Näheres 3.2.3.).

Die LAFs und analog dazu die Verblexeme können subklassifiziert werden. Als Sub-LAFs bzw. Subtypen der Verblexeme werden nach dem Kriterium des wahrnehmbaren Zustandswechsels (mit – ohne wahrnehmbaren Zustandswechsel, s.o. 2.2.3.) angesetzt:

Subkategorien der Ereignis-Lexeme

– Transformativa: mit wahrnehmbarem Zustandswechsel, zakryt’, ...

– Konklusiva: ohne wahrnehmbaren Zustandswechsel (meist mit Effekt), prikazat’, ....

Als Subkategorien der Verlaufslexeme

– Dekursiva: ohne wahrnehmbarem Zustandswechsel, plakat’’, ...

– Mutativa: mit wahrnehmbarem Zustandswechsel, idti 2 (bystree, ...)  ‚(schneller) gehen’, ...

Subkategorien der diffusen Lexeme:

– Transformativ-Mutativa: diffuse Lexeme mit wahrnehmbarem Zustandswechsel,černet, ...)

– Konklusiv-Dekursiva: diffuse Lexeme ohne wahrnehmbaren Zustandswechsel, čitat, ...).

Zur Subklassifikation der Ereignis-Lexeme nach dem Kriterium der Terminativität (die weit gehend der Opposition accomplishments – achievements entspricht) s. 2.2.3.

Zu den Lexemtypen und Subtypen: Lehmann 1997a (russ.) und umfassend Anstatt 2003a.

2.2.2. Exkurs: Subtypen und Hyperkategorien von Verb-Lexemen

Die Hyperkategorien fassen Sub-LAFs und deren Unterkategorien nach bestimmten Merkmalen zusammen. Es dient dem besseren Verständnis, wenn wir vor den Sub-LAFs relevante Hyperkategorien behandeln.

2.2.2.1. Die Hyperkategorie der Graduativa

Mit den Graduativa werden Situationen bezeichnet, die im  allmählichen Übergang von einem Zustand zu einem anderen Zustand besteht. Bei Ereignislexemen liegt lexikalisch der Bezug auf eine innere (inhärente) Grenze vor, bei Verlaufslexemen nicht, bei diffusen Lexemen ist darüber nichts festgelegt, der eindeutig überwiegende Fall. Die Diffusität erscheint in der Explikation der Wörterbücher am deutlichsten bei adjektivisch motivierten Derivaten in der Formulierung vom Typ ‚schwarz oder schwärzer werden’. Wie die umfassende Untersuchung von vier Wörterbüchern (MAS, BAS, Ožegov, Ušakov) durch Tewes (1997) zeigt, gibt es in den Explikationen einzelner Lexeme nur selten Übereinstimmung hinsichtlich der Klassifizierung als diffuse oder Ereignislexeme. Es lassen sich aber Tendenzen erkennen, u.a.:

– eine weit gehende Diffusität (Ereignis und/oder Verlaufsfunktion) der adjektivisch motivierten Lexeme auf –et’, Typ černet‚schwarz und/oder schwärzer werden’;

– eine starke Vertretung der Ereignis-Lexeme bei substantivisch motivierten Derivaten, Typ večeret, und solcher Lexeme, bei denen der pf. Partner das Präfix o- besitzt, Typ ochromet’.

Abgesehen von den Verben der Fortbewegung vom Typ idti 2 ‚gehen (z.B. schneller), kommen’ (von Tewes 1997 nicht berücksichtigt) waren Belege für klare Fälle reiner Mutativa, d.h. für Graduativa mit wahrnehmbarem Zustandswechsel, aber ohne innere Grenze, zumindest in den Wörterbüchern nicht zu finden. Die mutative Funktion dieser Lexeme erscheint insofern nur bei diffusen Transformativa-Mutativa in entsprechenden Kontexten ohne Grenzbezug (atelischen Kontexten).

Mit der Präfigierung wird, anders als bei nichtgraduativen diffusen Lexemen, meist nicht festgelegt, ob die innere Grenze ereicht ist oder nicht, ob also das Perfektivum telisch ist oder nicht. Auch die meisten Beispiele in den folgenden Tabellen stammen aus Tewes (1997). Die Effektiva, d.h. Verlaufslexeme mit dem Wechsel zu einem Effekt, also einem nicht wahrnehmbaren Zustand, sind selten.

 

Aktionale Lexemtypen

Russische Beispiele

Deutsche Beispiele (zugleich Übersetzung der Lexembedeutung)

nach LAF

nach Sub-LAF

Diffuse Lexeme

Transformativ-Mutativa

černet počernet

zdorovet’ – vyzdorovet’ (– vyzdoravlivat’) / pozdorovet’

est’ – s”est’/ poest’

schwarz / schwärzer werden

gesund / gesünder werden

 

essen / aufessen

Verlaufslexeme

Effektiva

 dorožat vz-, podorožat

deševet’ – podeševet

teurer werden

billiger werden

Mutativa

idti 2 – pojti 2 (bystree)

echat’ 2 – poechat’ 2

chudet’ – pochudet’

gehen (schneller, ...)

fahren (langsamer, ...) magerer werden

Ereignislexeme

Transformativa

chromet’ – ochromet’

večeret po-, svečeret

hinkend werden

Abend werden

Die Graduativa

2.2.2.2. Die Hyperkategorie der Lexeme mit zyklischem Perfektivum

Diese Verben zeichnen sich dadurch aus, dass nach einer Veränderung, in der Regel einer Fortbewegung oder pendelartigen Bewegung, der alte Zustand wieder eintritt. Bei der Fortbewegung ist es der Ausgangsort, an den zurückgekehrt wird, die Bewegung verläuft hin und zurück, es sind die Verben der Fortbewegung vom Typ chodit’ – schodit’ 2 ‚hingehen’. Bei Körperbewegungen wird wieder die Ausgangsstellung eingenommen. Einmalige zyklische Bewegungen dieser Art werden oft durch das Suffix {-nu-} markiert, diese Perfektiva werden oft als momentativ / Momentanverben bezeichnet[2]. Es besteht also beim Typ chodit’ 2 in beiden Aspekten und beim Typ machnut’ im pf. Aspekts keine wahrnehmbare Veränderung des Nachzustands gegenüber dem Vorzustand. Verläufe bestehen hier aus Serien von pendelartigen Bewegungen, Typ machat’. Sie werden als frequentativ, die Imperfektiva als Frequentativa bezeichnet. Dass in manchen Kontexten offen bleibt, ob es sich bei den Imperfektiva um ein Ereignis oder einen Verlauf handelt, wurde bereits von Maslov (1948) festgestellt, es handelt sich daher um diffuse Lexeme (s. dazu auch Lehmann 1997a: 2.2.).

 

Aktionale Lexemtypen

Russische Beispiele

(Pf. – Ipf.)

Deutsche Beispiele (zugleich Übersetzung der Lexembedeutung)

nach LAF

nach Sub-LAF

Diffuse Lexeme

Dekursiv-Konklusiva

(Untertyp: Frequentativ-Momentativa)

machat’ – machnut’, pomachat’

kolot’ – kol’nut’, pokolot’

prygat’ – prygnut’, poprygat’

winken

 

stechen

 

springen

 

Ereignislexeme (telisch)

Konklusiva

chodit’ 2. – schodit’

echat’ 2 – s”echat’

hingehen

hinfahren

Die zyklischen Verben

2.2.2.3. Die Hyperkategorie der Verben der Fortbewegung

Als Verben der Fortbewegung werden üblicherweise bestimmte Simplizia mit ihren Derivaten bezeichnet. Die Verben ordnen wir 5 Typen zu:

 

Aktionale Lexemtypen

Dt. Beispiele (zugleich Übersetzung)

Beispiel

 

Aspekt

LAF

Sub-LAF

idti 1 > pojti 1

 

Ipf. > Pf.

Verlaufslexeme (atelisch)

 

Mutativa

 

gehen (z.B. schneller)

gehen (dorthin)

 

idti 2 > prijti 1 > prichodit’ 1

Ipf. > Pf. > Ipf.

Ereignislexeme

(telisch)

 

Transformativa

kommen

 

chodit’ 1 > pochodit’ 1

 

Ipf. > Pf.

Verlaufslexeme (atelisch)

Dekursiva

umhergehen

chodit’ 2 > 1schodit’ 1

Ipf. > Pf.

Ereignislexeme (telisch)

 

zirkuläre Konklusiva

 

hin- und zurückgehen

vyjti 1 > vychodit’ 1

sojti 1 > 2schodit’ 1

Pf. > Ipf.

Ereignislexeme

(telisch)

 

Transformativa

 

hinaus-/ heraus-,

hinab- / herabgehen

Die Verben der Fortbewegung

 

Die Simplizia idti und chodit’ und die analogen Simplizia (echat’ – ezdit’ ,fahren‘, letet’ – letat’ ,fliegen‘ usw.) bilden zwei Paradigmen ipf. Verben jeweils für eine bestimmte Art der Fortbewegung. Ein Simplizium bildet mit seinem Aspektpartner bzw. den Aspektpartnern desselben Typs jeweils ein Lexem (z.B. idti 1 > pojti 1). Die beiden Lexeme mit den Simplizia von Typ idti (für ,gehen‘ und ,kommen‘) werden unidirektional (odnonapravlennyj), die beiden Lexeme mit dem Simplizium vom Typ chodit’ (für ,umhergehen‘ und ,hin- und zurückgehen‘) werden pluridirektional (neodnonapravlennyj) genannt.

Die lexikalischen Derivate der Simplizia vom Typ vyijti > vychodit’ haben ein lokales Präfix (bei semantisch abgeleiteter Bedeutung ist die lokale Bedeutung die ursprüngliche). Sie sind telisch und verhalten sich generell wie telische Verben, die Partnerbildung ist aber oft suppletiv (vyjtipf > vychodit’ipf ‚hinausgehen’), z.T. in Kombination mit der Suffigierung (vyechat’pf > vyezžatipf ‚hinausfahren’). Trotz der formalen Übereinstimmung mit den Simplizia besteht hier nicht mehr die Opposition uni- – pluridirektional. Die Aspektpartner vyjtipf > vychodit’ipf usw. haben die üblichen Satzfunktionen von Ereignislexemen.

Die Lexeme des ,kommen‘-Typs bilden eine Trojka, deren drittes Verb prichodit’ (< prijti < idti) usw. wie die ipf. Partner der lexikalischen Derivate gebildet wird, also wie z.B. vychodit’ (< vyjti). Sie gehören aber nicht zu diesem Typ, sondern zu den Lexemen mit Simplizium und der Bedeutung ,(gegangen, gefahren, geflogen, ...) kommen‘. Anders als die lexikalischen Derivate lassen sie keine progressive Funktion zu, diese wird vom Simplizium ausgedrückt.

Offen ist die Verwendbarkeit der progressiven Funktion mit Imperfektiva vom Typ chodit’ 2 ‚hingehen’, jedenfalls deuten widersprüchliche muttersprachliche Auskünfte darauf hin, vgl. ?v to vremja kak ona chodila k kiosku, ... (Grund für die Problematik dürfte die Tatsache sein, dass bei der progressiven Funktion eine Phase des Verlaufs profiliert wird, die profilierte Phase aber einem Hin- oder Rückweg zugeordnet werden müsste.).

Anders als von mir früher angenommen gibt es bei Typ idti > pojti ,gehen‘ mit Zielangabe (idti / pojti na vokzal) keine telische Lesart. Die Zielerreichung und damit die Erreichung der inhärenten Grenze ist bei dieser Fügung nicht obligatorisch, sondern nur per Default anzunehmen, denn sie kann kontextuell negiert werden. Es ist möglich zu sagen: Ona pošla na vokzal, no ne došla do nego[3]. Die telische Funktion besteht also nur, wenn es eine Zielangabe gibt und dem Default der Zielerreichung nicht widersprochen wird (Ona pošla na vokzal.). Sie ist somit nicht lexikalisch, sondern syntaktisch bedingt.

Zur Bedeutung und Partnerbildung der Verben der Fortbewegung vgl. Lehmann 1988a.

2.2.2.4. Die Typen und Subtypen der Verb-Lexeme  – Überblick

Die folgende Tabelle mit Lexem-Typen (nach dem Kriterium LAF bzw. Sub-LAF) bringt die Sub-LAFs, die oben vorgestellt worden sind. In der folgenden Tabelle wird zu diesen daher jeweils nur ein Beispiel gebracht.  Zu kommentieren ist noch die Unterteilung der Stativa. Bei den relativen Stativa kann es in bestimmten syntaktischen Kontexten zu einer funktionalen Äquivalenz zwischen pf. Derivaten und ipf. Stative kommen, was wir als syntaktische Partnerschaft bezeichnen. Vgl.:

on uznal iz gazet – on znal iz gazet

Bei den absoluten Stativa entfällt diese Möglichkeit. Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Lehmann 2001a sowie 1997a und dort die Hinweise auf Breus Einteilung der Stativa.

 

Aktionale Lexemtypen

Russische Beispiele

 

Deutsche Beispiele (zugleich Übersetzung)

nach LAF

nach Sub-LAF

Ereignislexeme (telisch) (Pf. – Ipf.)

Transformativa

 

zakryt’ – zakryvat’

sest’ – sadit’sja

perestroit’ – perestraivat’

Verben der Fortbewegg. (s.o.) idti 1 – pojti 1, ...

Graduativa (s.o.):

večeret po-, svečeret

schließen

sich setzen

umbauen

 

 

gehen (dorthin), kommen

 

Abend werden

Konklusiva

 

otvetit otvečat

prikazat’ – prikazyvat’

zabyt’ – zabyvat’

poblagodarit’ – blagodarit’

Verben der Fortbewegg. (s.o.)

schodit’ – chodit’ 2

antworten

befehlen

vergessen

danken

 

 

hingehen

Verlaufslexeme

(atelisch)

(Ipf. – Pf.)

Dekursiva

plakat’ – po-, zaplakat’

guljat’ – poguljat’

dumat 2 – podumat’ 2 Verben der Fortbewegg. (s.o.)

chodit’ 1 – pochodit’ 1,

Effektiva (s.o.) dorožat vz-, podorožat

weinen

spazieren gehen

nachdenken

 

 herumgehen

 

teurer werden

Mutativa (s.o.)

idti 2 – pojti 2 (bystree)

gehen (schneller, ...)

Stativa (atelisch)

absolute

značit

sootvetstvovat’

bedeuten

entsprechen

relative

(Ipf. – Pf.)

znat’ ‘ (– uznat’)

ljubit’ (– poljubit’)

wissen (– erfahren)

lieben ( – lieb gewinnen)

aktional diffuse Lexeme (telisch und/oder atelisch)

(Ipf. – Pf.)

Transformativ-Mutativa (s.o.)

černet počernet

 

schwarz / schwärzer werden

Konklusiv-Dekursiva

 

čitat’– pro- / po-čitat,

 

pet’ – s- / popet’

tancevat’ – s-, potancevat’

Frequ.-Momentativa (s.o.) machat’ – machnut’, pomachat’

lesen (das Gedicht / Gedichte)

singen (ein Lied / vor sich hin)

tanzen (eine Polka / herum-)

winken

Überblick zu den Lexem(sub)typen

 

Atelische und diffuse Lexeme können zu nichttelischen zusammengefasst werden.

2.2.3. Morphologische Aspektfunktionen

Der pf. (perfektive) Aspekt ist die Menge aller Perfektiva (pf. Verben). Sie haben die Funktion ‚episodisches Ereignis‘. Pf. Ereignislexeme haben in der Regel kein  Aspektaffix, die anderen Lexeme haben in der Regel ein grammatisches Präfix, z.B. {s-},{na-}, {po-}.

Der ipf. (imperfektive) Aspekt ist die Menge aller Imperfektiva (ipf. Verben). Sie haben als morphologische Funktion die LAF. Ipf. Verlaufs-, stative und diffuse Lexeme haben in der Regel kein Aspektaffix, die ipf. Ereignislexeme haben in der Regel das grammatische Suffix {-iva-,   -va-, -a-}.

2.2.4. Satzfunktionen der Aspekte

Die kanonischen Satzfunktionen sind:

 

Satzfunktion

Aspekt

Beispiel

Gestaltfunktion

Episodizitäts.fkt.

konkret-faktisch

pf.

zakrojut okno;

poguljali; s"el jabloko

episodisch

Ereignis

progressiv

ipf.

v to vremja, kak guljali;

smotri, ona zakryvaet okno

Verlauf

iterativ

utrom ona ela jabloko;

utrom ona guljaet

nichtepisodisch

Ereignis

Verlauf

diffuse Gestalt

allgemein-faktisch

ty u že zakryval takoe okno?

vy uže eli kartofel'?

stativ

ėto značilo sledujuščee: ;

ozero ležit meždu gorami

stativ

 

Die kanonischen Satzfunktionen

Nichtkanonische Satzfunktionen: 

(a) Sie beruhen auf der kontextbedingten Veränderung der Episodizität und/oder der aktionalen Häufigkeit kanonischer Satzfunktionen (z.B. die exemplarische Funktion bei Perfektiva mit der Funktion ‚mehrmalig‘), s. Paradigma 7.

(b) Nichtkanonisch ist die konkret-faktische Funktion bei Imperfektiva (vor allem im Historischen Präsens und dem Präsens von Direktreportagen, Mauerschau, Bühnenanweisungen u.ä., vgl. Smotri / včera prichodit Saša i zakryvaet okno: ... ‚Guck mal da kommt / gestern kommt Sascha und schließt das Fenster‘.

Zu den kanonischen und nichtkanonischen Satzfunktionen s. Maslov  1984: 70-84; Rassudova 1982; Forsyth 1970; Schlegel 2002. Die Vertretung der Satzfunktionen in Textsorten: Appel 1996. Ihr Rekonstruktion ausgehend von den lexikalischen Funktionen: Lehmann 2005a.

2.2.5. Taxische Aspektfunktionen

Die taxischen Funktionen der Aspekte gehören zu seinen temporalen Funktionen, s.u. Kap. 4.

– Taxische Default-Funktionen sind:

– Sequenz: Pf. + Pf.

– Parallelismus: Ipf. + Ipf.

– Inzidenz: Pf. + Ipf. oder Ipf. + Pf.

Die Funktion ‚Vorzukunft‘ (Funktion des Futur II) wird durch pf. Präsensformen ausgedrückt.

Die Funktion ‚Vorvergangenheit‘ (Funktion des Plusquamperfekt) wird vorwiegend mit pf. Adverbialpartizipien oder pf. Präterita ausgedrückt.

Taxische Koinzidenz liegt bei zeitlicher und räumlicher Identität von Situationsmomenten vor, meist ausgedrückt durch nachgestelltes pf. Adverbialpartizip. Die deutsche Standardentsprechung ist eine Konstruktion mit indem:

ona urezonila ego, skazav ... ‚sie brachte ihn zur Räson, indem sie sagte ...’

Die taxischen Funktionen sind eine Unterkategorie der temporalen Funktionen und interagieren besonders eng mit dem Aspekt, Näheres s. Lehmann (in Arbeit, FFTT). Zu den taxischen Funktionen s. u.a. Lehmann (in Arbeit, LR, Kap. „Textlinguistik“), 1998a, 1995b, 1993a, 1989a. Ausführlich zur taxischen Koinzidenz Lehmann 2005b.

2.3. Kognitive Konstituierung der Funktionen

Diese erfolgt in folgenden Schritten:

1. Erwerb von primären Situationsbegriffen durch Abgleich (matching) wahrgenommener Situationen am Psychischen Jetzt als Wahrnehmungsschablone (template).

2. Kombination der primären Situationsbegriffe mit phonetischen Formen zu primären Wortformen mit den primären Situationsbegriffen als aktionalen Funktionen.

3. Konstituierung von Paradigmen (= Kategorien) von Wortformen mit primären aktionalen Funktionen.

4. Expansion der Paradigmen durch Aufnahme von Wortformen mit konzeptuell erschlossenen (nicht mehr auf direkter Wahrnehmung beruhenden) Funktionen durch Abgleich mit dem Psychischen Jetzt in der Funktion einer Begriffsschablone und durch Mustervergleich mit den primären Situationsbegriffen.

[Hierzu Lehmann in Druck c.]


[1] Der Terminus Simplex wird hier für Verben ohne grammatisches Aspektaffix gebraucht.

[2] Den Momentativa von Apresjan 1995 entsprechen hier weitgehend die Konklusiva.

[3] Darauf wurde ich von Julia Kukla aufmerksam gemacht, die auch weitere Muttersprachler befragt hat , was früheren Auskünften von Muttersprachlern widerspricht.